- Medizin und Magie: »Notwendige Kunst«
- Medizin und Magie: »Notwendige Kunst«In der Antike genoss die ägyptische Medizin Weltruf. Ägyptische Ärzte waren am hethitischen, assyrischen und persischen Hof tätig und wurden schon von dem griechischen Dichter Homer gerühmt. Überhaupt stellt die Medizin in der Geschichte des Wissens den bedeutendsten Beitrag Ägyptens dar. Auch im Rahmen der ägyptischen Kultur selbst hatte die Medizin zentrale Bedeutung. Die Ärzte nahmen einen hohen Rang in der Gesellschaft ein. Das galt nicht nur für das Alte Reich, als solche Funktionen noch an den Hof und die Person des Königs gebunden waren, sondern auch für spätere Epochen, in denen Ärzte im ganzen Land tätig waren. Wie in der europäischen Renaissance gehörten die Ärzte zu den führenden Intellektuellen, deren Wissen sich auf Natur und Geisterwelt erstreckte, mit besonderem Geheimnis umgeben war und höchstes Ansehen genoss. Und ebenfalls wie in der Renaissance umfasste auch in Ägypten ärztliches Wissen nicht nur ein breites Spektrum technisch-medizinischer, physiologischer (die Lebensvorgänge betreffender) und magischer Kenntnisse, sondern auch »Weltweisheit« im allgemeinen Sinne. Die Ärzte wurden im »Lebenshaus« ausgebildet, einer Institution, die für die medizinische, magische und rituelle Bewahrung des Lebens zuständig war und die Funktionen eines Skriptoriums (einer Schreibstube), einer allgemeinen Ausbildungsstätte (»Universität«) und eines Heiligtums verband. Ursprünglich dem Palast angegliedert, gehörten später Lebenshäuser zu allen größeren Tempeln. Die Lebenshäuser und damit auch die Ärzte waren die Überlieferungsträger der ägyptischen Kultur. Das ägyptische Wort für »Arzt« bezeichnet einen Allgemeinmediziner, der praktischer Arzt, Chirurg und Geburtshelfer in einem ist. Es gab aber auch Spezialärzte. Die »Priester der Sachmet« (der Göttin der Krankheiten) arbeiteten als Opferbeschauer, die die Reinheit des Opfertiers und die rituelle Korrektheit der Schlachtung zu überwachen hatten; sie waren als Vollzieher der Riten, als Anatomen und Physiologen auch ärztlich tätig. Die »Leiter der Serqet« (der Skorpiongöttin) waren ebenfalls Magier und Ritualisten, deren Spezialität die Behandlung von Schlangenbissen und Skorpionstichen war.Ärztliches Wissen wurde einerseits im Lebenshaus tradiert und vermittelt, andererseits vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Man kennt ganze Ärztedynastien mit Stammbäumen bis zu 14 Generationen. Die beiden wichtigsten Überlieferungsformen sind Lehrbücher und Rezeptsammlungen. Im Kanon der 42 »hochnotwendigen« Bücher, den der griechische Philosoph und Theologe Klemens von Alexandria beschreibt, sind nicht weniger als sechs medizinische Lehrbücher enthalten: »Über den Bau des Körpers«, »Über Krankheiten«, »Über ärztliche Geräte«, »Über die Heilmittel«, »Über Augenkrankheiten« und »Über die Zustände der Frauen«. Von allen sechs Sparten finden sich mehr oder weniger reiche Spuren in der altägyptischen Überlieferung und von den ersten beiden sogar vollständige Lehrbücher. Beide stammen aus dem frühen Neuen Reich (16. Jahrhundert v. Chr.), gehen aber auf ältere Vorlagen zurück.Das älteste erhaltene Lehrbuch (über Chirurgie) ist der Papyrus Edwin Smith. Wie alle ägyptischen und überhaupt vorgriechischen Wissenssammlungen verfährt es kasuistisch, das heißt an Fallbeispielen orientiert. Konkrete Fälle werden beschrieben in der Form »Wenn du den und den Befund feststellst, verfährst du so und so«, gegliedert nach Untersuchung, Diagnose, Verdikt (Prognose), Therapie und Kommentaren (Glossen). Die Untersuchung besteht vor allem im Abtasten. Diagnose und Verdikt werden als direkte Rede zitiert: »dann sollst du sagen:...«. Für das Verdikt stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung: »Eine Krankheit, die ich behandle«, »... mit der ich kämpfe« und »... die man nicht behandeln kann«. Therapeutische Anweisungen werden für die ersten beiden, oft aber auch für den dritten Fall gegeben, wo sie dann nur noch Linderung bewirken sollen. Die Glossen sind vom Haupttext in roter Schrift abgehoben und beziehen sich besonders auf die Untersuchung, wobei krankheitsbedingte Veränderungen durch anatomische Beschreibung kommentiert werden. Ein Beispiel:»Informationen über einen Bruch am Pfeiler seiner Nase. Wenn du einen Mann untersuchst mit einem Bruch am Pfeiler seiner Nase; seine Nase ist breitgeschlagen, eingeebnet ist sein Gesicht; es steigt die Anschwellung hoch, die auf ihm (das heißt dem Bruch) ist. Er gibt Blut aus seinen Nasenlöchern: Dann musst du dazu sagen: einer mit einem Bruch am Pfeiler seiner Nase. Eine Krankheit, die ich behandeln werde. Dann sollst du ihm (die Nase) auswischen (mit) zwei Tupfern aus Stoff. Dann sollst du zwei Tupfer aus Stoff, befeuchtet mit Öl/Fett, in das Innere seiner Nasenlöcher legen. Dann sollst du (ihn) auf sein Ruhebett legen, bis seine Anschwellung ausgezogen ist. Dann sollst du ihm Polster aus Stoff anlegen und durch sie seine Nase zusammenhalten. Behandle du ihn danach mit Öl/Fett, Honig, Fasern jeden Tag, bis es ihm besser geht. (Kommentar:) Was anbetrifft: »den Pfeiler seiner Nase«. Das ist: die oberste Kante seiner Nase bis zu ihrer Hälfte auf der Oberseite seiner Nase, im Innern seiner Nase, in der Mitte (zwischen den) beiden Nasenlöchern (oder Nasenflügeln). Was anbetrifft: die beiden Nasenlöcher (oder Nasenflügel). (Das sind:) die beiden Seiten(räume) seiner Nase, reichend bis zu seiner Wange bis zum Ende seiner Nase, [auf] der Oberseite seiner Nase aufhörend.«Der Papyrus Ebers hat aus solchen Kommentaren ein anatomisch-physiologisches Lehrbuch über die »Gefäße« des Körpers zusammengestellt, die nach ägyptischer Vorstellung nicht nur Blut, sondern Luft, Wasser, Schleim, Samen, Tränen, Harn und Kot transportieren, wobei das Herz die Pumpe für alles ist und (als Pulsschlag) in den Gefäßen »spricht«. Die meisten inneren Krankheiten werden auf Stauungen und Stoffwechselprobleme zurückgeführt und durch Abführmittel und gezielt herbeigeführtes Erbrechen behandelt.Die Wahl der zu verabreichenden Mittel beruht teils auf Beobachtung (also Zusammenhängen zwischen Krankheiten und ihren Ursachen), teils auf Berechnung, das heißt auf Analogieschlüssen nach dem Prinzip, dass Ähnliches nur durch Ähnliches geheilt werden kann. So wird zum Beispiel im Papyrus Smith empfohlen, Schädelverletzungen mit einem Pulver aus zerstoßenen Straußeneiern zu behandeln, weil das Straußenei der Form und Konsistenz des Schädels ähnlich ist. Noch im 17. Jahrhundert gingen in Europa Ärzte davon aus, dass Walnüsse ein Mittel gegen Kopfschmerzen seien, weil ihre Form an Gehirn und Schädel erinnert.Was weder als Stauung oder Stoffwechselstörung noch als Verwundung erklärt werden kann, wird auf Besessenheit zurückgeführt; dafür werden dann Gottheiten, Dämonen und Tote verantwortlich gemacht. Mit diesen Mächten Verbindung aufnehmen und sie zum Verlassen des befallenen Körpers überreden oder gar zwingen zu können, ist in ägyptischen Augen der wichtigste Aspekt der ärztlichen Kunst. Daher muss der ägyptische Arzt zugleich priesterlich-liturgische Funktionen wahrnehmen. Von Anfang an und bis in die Spätantike gehört, was wir Magie nennen, zur ärztlichen Kunst dazu. Dabei handelt es sich um Sprüche, die der Arzt im Rahmen der Therapie zu rezitieren hat. Handlungen haben hier nur begleitenden Charakter, das wichtigste ist die Rezitation der Sprüche. Diese werden nicht in medizinischen Lehrbüchern, sondern in eigenen Nachschlagewerken überliefert; sie bilden aber einen wichtigen Bestandteil wohl jeder ärztlichen Behandlung. Vermutlich wird man auch bei eindeutigen medizinischen Befunden ebenso wenig auf derartige Rezitationen verzichtet haben wie - umgekehrt - in (nach ägyptischen Begriffen) eindeutigen Fällen von Besessenheit auf praktisch-therapeutische Maßnahmen. Diese Rezitationen müssen auf jeden Fall eine starke Suggestivwirkung im Sinne einer die medizinische Praxis stützenden Psychotherapie ausgeübt und auf diese Weise zur Heilung beigetragen haben.Bei weitem der größte Teil der ägyptischen Zaubertexte gehört in den Bereich der Medizin. Auch hier beruht das Verfahren auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. Die Krankheit wird zu einem beispielhaften Fall im Reich der Mythologie in Beziehung gesetzt. So wie dieser gut ausging, soll auch die Heilung gelingen. Die meisten dieser Präzedenzfälle sind dem Mythenzyklus um Isis, Horus und Osiris entnommen. Die Göttin Isis ist die Zauberin schlechthin; sie hat es vermocht, die verstreuten Gliedmaßen ihres erschlagenen Gatten Osiris zu sammeln und wiederzubeleben, sodass sie das Horuskind empfangen konnte, und sie hat das Horuskind im Verborgenen aufziehen und vor allen Gefahren beschützen können. Als das Kind von einem Skorpion oder einer Schlange gebissen wurde und in Lebensgefahr schwebte, konnte sie sogar die Sonnenbarke zum Stillstand bringen und mit einer kosmischen Katastrophe drohen, sollten die Götter nicht auf der Stelle eingreifen und das Kind heilen. Diese Episode ist das Urbild aller magischen Heilungen in Ägypten. Die Rezitation beschwört die kosmischen Energien der Welterhaltung und setzt sie für die Heilung ein. Wie im Kosmos soll auch im Patienten das Leben weitergehen.Die Magie galt den Ägyptern als ein vollkommen legitimes Mittel, sich des alltäglichen Unheils zu erwehren. In der »Lehre für Merikare« ist sie eine der guten Gaben des Schöpfers für die Menschen. »Er hat ihnen die Magie als Waffe gegeben, damit sie den Schlag der Ereignisse abwehren können.«Prof. Dr. Jan Assmann
Universal-Lexikon. 2012.